Kluges Testkonzept und digitales Tagesticket
In Tübingen haben Läden, Theater, Kinos und Außen-gastronomie geöffnet
„Heute machen wir etwas ganz Besonderes“, sagt Yasmina Elsner und lacht ihren Mann an, „heute setzen wir uns in ein Straßencafé.“ In der Zeit vor Corona hätte dieser Satz ziemlich banal geklungen. Im Jahr 2021 hört er sich einfach wahnsinnig gut an. Das Land befindet sich seit Monaten im Lockdown, der Winter war ungewohnt kalt, die Menschen haben gelernt, im Privaten wie in der Öffentlichkeit Abstand zu wahren. Ein Besuch in einem Straßencafé? Unvorstellbar.
Gäbe es da nicht Tübingen, eine Universitätsstadt am Neckar. Dort läuft seit Mitte März ein Pilotprojekt, das „Tübinger Modell“. Läden, Theater, Kinos, Museen und Außengastronomie haben geöffnet – wer einen tagesaktuellen, negativen Corona-Schnelltest vorweisen kann, darf eintreten.
Yasmina Elsner hat gerne eine Stunde in der Schlange vor der Teststation an der Neckarbrücke gestanden. Jetzt trägt sie eines der begehrten Papierbänder mit einem individuellen QR-Code ums Handgelenk: das digitale Tagesticket. „Das ist wie eine Eintrittskarte in die Normalität“, sagt sie.
Oder, wie Alisa Mader es formuliert: „Es fühlt sich wie ein Festival-Bändchen an.“ Die Musik spielt in Tübingens Altstadt – einer verwinkelten, kopfsteingepflasterten Schönheit voller mittelalterlicher Gebäude und Plätze, die jede Wasserwaage in den Wahnsinn treiben. Jetzt sitzt die Physik-Studentin im Café Collegium und trinkt einen Aperol Spritz mit ihrer Freundin Lea Appelhans. „Ich fühle mich zum ersten Mal seit langem richtig unbeschwert.“
„Am meisten habe ich in den vergangenen Monaten das Essen gehen vermisst. Toll, dass das jetzt in Tübingen möglich ist. Das sollten viel mehr Städte so machen.“
Yasmina Elsner
„Wir fahren gerade mit dem Wohnmobil durch Deutschland – da haben wir einen Bericht über Tübingen im Fernsehen gesehen und wollten uns das anschauen. Es ist so schön, dass man sich hier frei bewegen kann.“
Lydia Oerter
„Das ist ein ganz neues Lebensgefühl. Für ein, zwei Stunden fühlt sich alles an wie früher. Ich habe dabei entdeckt, wie wertvoll Dinge sind, die ich früher für selbstverständlich gehalten habe.“
Karin Lanz-Schwarz
„Es ist toll, dass wir unsere Läden wir öffenen konnten. Die Leute sind sehr gut gelaunt, jeder freut sich, dass er wieder einkaufen kann.“
Corinna Rurländer
„Für uns Gastronomen war es wirklich hart, dass wir schließen mussten. Wir machen den Job nicht nur fürs Geld, sondern auch wegen unserer Gäste. Ich freue mich, endlich wieder Leute zu sehen, mit ihnen zu reden, den Sommer zu genießen.“
Mohammad Chlon
„Was in den vergangenen Monaten am meisten gefehlt hat? Mit Freunden zusammenzusitzen und Spaß zu haben. Deshalb sind wir heute hier, gehen in die Läden, trinken Kaffee und Aperol Spritz.“
Alisa Mader (Links) und Lea Appelhans (Rechts)
„Eine Sache hat die Corona-Krise uns gezeigt: wir als Gastronomen merken endlich mal, wie wichtig unser Beitrag zu Gesellschaft ist. Das sagen uns die Leute in Tübingen jeden Tag aufs Neue.“
Karoline Schmitz
Die ganze Stadt fühlt sich so an, als wäre sie aus einem langen, grauen Winterschlaf erwacht. Die Frühlingssonne tut ein Übriges. „Ich erlebe nur gut gelaunte Menschen“, sagt Jochen Hecht, Chef des gleichnamigen Einrichtungshauses, „das tut so gut.“ Für den Einzelhandel und die Gastronomie ist das „Tübinger Modell“ nicht nur eine Frage des Lebensgefühls, es geht um die Zukunft. „Vor Weihnachten schließen zu müssen, hat uns hart getroffen“, so Hecht, „deshalb sind wir sehr froh, dass wir an diesem Pilotprojekt teilnehmen können.“
So geht es auch Karoline Schmitz, die mit ihrem Mann im Februar „Caro’s Restaurant“ eröffnet hat, zunächst notgedrungen als reinen Abholservice. Seit einigen Wochen ist die Terrasse geöffnet – „seitdem sind die Tische praktisch durchgehend belegt.“ Wie überall in der Stadt. „Für uns ist das fantastisch – und finanziell sehr, sehr wichtig.“ Dann sagt sie noch etwas – und es ist ein Satz, den in Tübingen heute wohl jeder unterschreiben würde: „Wir genießen gerade jeden einzelnen Tag. Jeder Tag zählt.“